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H.  16 Ramadan 1440 No: Nr.:1440/07
M.  Dienstag, 21 Mai 2019

 Stellungnahme

Das Kopftuchverbot als Offenbarungseid des liberalen Verfassungsstaates

Am 15.05.2019 passierte das Kopftuchverbot für Österreichs Volkschulen den Nationalrat. Mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ sowie von den Abgeordneten Peter Pilz und Daniela Holzinger-Vogtenhuber wurde der Antrag zur Änderung des Schulunterrichtsgesetzes (495/A) als einfachgesetzliche Regelung beschlossen und dem Unterrichtsausschuss des Bundesrates zugewiesen. Der ursprüngliche Plan, das Gesetz auf Verfassungsrang zu heben, scheiterte an der Opposition, die ihrerseits ein ganzheitliches Integrationspaket forderte. Die Gesetzesinitiative wurde bereits durch die ÖVP/FPÖ-Regierung im Frühjahr 2018 angestoßen. Damals meinte der Kanzler: „Eine Verschleierung von Kleinkindern ist definitiv nichts, was in unserem Land Platz hat!“ Tatkräftige Unterstützung erhielt Sebastian Kurz erwartungsgemäß von dem ehemaligen FPÖ-Chef und Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache.

In dem Gesetzestext heißt es wörtlich: Um die bestmögliche Entwicklung und Entfaltung aller Schülerinnen und Schüler sicherzustellen, ist diesen bis zum Ende des Schuljahres, in welchem sie das 10. Lebensjahr vollenden, das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist, untersagt. Dies dient der sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten, der Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der Verfassung sowie der Gleichstellung von Mann und Frau. Die Formulierung belegt unmissverständlich, dass die Alpenrepublik direkt in den Sozialisierungsprozess von islamischen Kindern und Jugendlichen eingreifen wird, um dadurch die Integration bzw. Assimilation in die österreichische Kultur zu erzwingen. Mit dem Gesetz wird im gesellschaftlichen Bereich eine vorpolitische Ordnung geschaffen, die divergierende Lebensentwürfe ächtet und kulturelle Homogenität per Zwangsmaßnahmen verordnet. Die Verfasser des Gesetzes machten sich dabei nicht einmal die Mühe, die Fassade eines liberalen Verfassungsstaates aufrechtzuerhalten, schließlich kriminalisiert das Gesetz explizit die Prägung durch kulturfremde Weltanschauungen oder Religionen und verordnet die Angleichung an das eigene Welt- und Menschenbild.

Das Vorgehen in Österreich steht exemplarisch für die Unfähigkeit westlicher Staaten, ein Gesellschaftsmodell zu entwickeln, in dem soziale Gruppen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensentwürfen konfliktfrei und nachhaltig nebeneinander existieren können. Obwohl der Anspruch – ja sogar die Legitimierung – des eigenen Staatswesens darin besteht, die Freiheiten des Einzelnen zu schützen, ist der europäische Geist mit der Vorstellung anderer Weltanschauungen und Lebensentwürfe überfordert und erachtet diese immer wieder als existenzielle Gefahr für das eigene Fortbestehen. Um die kulturellen Voraussetzungen des Staates zu schützen, müssten fremde Weltanschauungen und Lebensentwürfe zurückgedrängt und in letzter Konsequenz gänzlich vernichtet werden. Obwohl sich aus dem Postulat kulturhistorischer Verfassungsvoraussetzungen keine Normativität im staatsrechtlichen Sinne ableiten lasse (Christoph Möllers), führt die Normativität des Faktischen Europa erneut an einen kulturhistorischen Wendepunkt, an dem sich die Zukunft der eigenen Verfasstheit entscheiden wird. Denn die real betriebene Integrationspolitik untergräbt mit ihren auf den Ethnozid abzielenden Maßnahmen und Kampfbegriffen wie Leitkultur den liberalen Verfassungsstaat und leistet der Vorstellung eines einheitlichen Kulturstaates Vorschub.

Die Konsequenzen eines solchen Paradigmenwechsels würden nicht nur Muslime, sondern all jene Individuen und soziale Gruppen treffen, die über eigene Wertevorstellungen und Lebensentwürfe verfügen. Dies lässt sich bereits an dem Kopftuchverbot für Österreichs Volksschulen ablesen, schließlich offenbart die Ausschlusserklärung, welche die Kippa der Juden und die Patka der Sikhs exkludiert, neben dem diskriminierenden und dezidiert antiislamischen Charakter des Gesetzes vor allem eines: Die eigentliche Formulierung des Gesetzes rechtfertigt Maßnahmen gegen alle soziale Gruppen, die in ihrem kulturellen Erscheinungsbild nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprechen. Die soziale Sprengkraft der islamfeindlichen Integrationspolitik besteht in ihrer inneren Logik, die sich je nach politischer Stimmungslage auf jede beliebige Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft übertragen und anwenden ließe. Die zunehmende Polarisierung der eigenen Gesellschaft, der Niedergang der politischen Streitkultur, der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen sowie die Erosion europäischer Institutionen sind Charakteristika der sich anbahnenden Zeitenwende und nur der erste Vorgeschmack dessen, was auf den Kontinent zuzukommen droht.

Vor diesem Hintergrund fordert Hizb-ut-Tahrir ein Ende dieser zersetzenden Integrationspolitik und appelliert an Politiker und Intellektuelle, sich einem Diskurs zu öffnen, der auf eine stabilisierende Übereinkunft zielt – eine Übereinkunft, die auf die Interessen aller Beteiligten sowie auf die notwendigen Elemente eines friedlichen Zusammenseins fokussiert. Abseits kulturhistorisch begründeter Verfassungsvoraussetzungen oder idealtypischer Abstraktionen des Liberalismus gilt es, den konkreten Regelungsbedarf zu erfassen und ein tragbares Modell zu entwickeln, das weltanschaulichen Differenzen Rechnung trägt und der gegenwärtigen Polarisierung ein Ende setzt. Gelingt dies nicht, reicht ein Blick in die europäische Geschichte, um zu erkennen, wie es um die Zukunft von Europas Minderheiten und Mehrheitsgesellschaften bestellt ist.

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