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H.  26 Shawwal 1438 No: 50
M.  Freitag, 21 Juli 2017

Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
zum Verschleierungsverbot in Belgien

Am Dienstag, dem 11.07.2017, bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Rechtmäßigkeit des im Jahre 2011 in Belgien eingeführten Verbots der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum. Das Gesetz verstoße laut den Ausführungen der Straßburger Richter nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dieses -auch für den deutschsprachigen Raum- wegweisende Urteil war die Konsequenz einer Klage zweier in Belgien lebenden Musliminnen, die auf diese Weise das verhängte Verbot in letzter Instanz abwehren wollten.

Die Klageführerinnen rügten im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit aus Art. 9, ihrer Privatsphäre aus Art. 8 und des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK. Neben der sozialen Stigmatisierung und der daraus resultierenden Furcht vor Übergriffen argumentierten die Klägerinnen mit der massiven Einschränkung ihres Privat- und Soziallebens. Das EGMR lehnte die Beschwerden ab, indem es auf den Kompetenzrahmen des belgischen Gesetzgebers verwies. Dieser wisse besser, was für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig sei:[…] die [national]staatlichen Autoritäten sind im Prinzip besser positioniert, um die lokalen Notwendigkeiten und Zusammenhänge zu beurteilen, als ein internationaler Gerichtshof. Mit anderen Worten stiehlt sich der Europäische Gerichtshof aus der Affäre und stellt damit seine eigene Existenzberechtigung in Frage, die gemäß den eigenen Leitlinien eben gerade darin besteht, als übergeordnetes Organ die Einhaltung europäischer Rechtsprinzipien in den Mitgliedsstaaten sicherzustellen.

Im operativen Sinne ist der EGMR prinzipiell dazu angehalten, konkrete Streitfälle einer juristischen Bestandsaufnahme zu unterziehen, um seiner Funktion tatsächlich Gestalt zu verleihen. Auf ideeller Ebene sieht der Gerichtshof seinen Auftrag in der „Bewahrung der Menschenrechte“, im „Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus“ sowie in der „Verteidigung kultureller Diversität“. Doch anstatt die genannten Ideale zu verteidigen und deren Einhaltung sicherzustellen, verweisen die Straßburger Richter auf belgische Kommunikationsbedürfnisse: Dem Staat erschien der Schutz einer Bedingung für die Interaktion zwischen Individuen als essentiell, um das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft sicherzustellen. Die Frage, ob die Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum Belgiens akzeptiert werden soll, war daher eine Entscheidung der [betroffenen] Gesellschaft. Der Niqab wird so erneut als existenzielle Bedrohung dargestellt, der sich als „dunkler Schleier“ über die Gesellschaft legt und dadurch die soziale Kommunikation der belgischen Staatsbürger verstummen lässt – also jener Bürger, die sich seit über 200 Jahren nicht einmal auf eine gemeinsame Amtssprache einigen konnten und sich im Rahmen ihrer wallonischen bzw. flämischen Identität permanent anfeinden! Es handelt sich also um einen zerrissenen Staat, der unlängst an der Grundvoraussetzung der zwischenmenschlichen Interaktion – der Sprache – zu scheitern drohte. Vor diesem Hintergrund erscheint das höchstrichterlich herbeiphantasierte Schreckgespenst des Niqab als schlechter Witz, der an Zynismus und Realitätsverlust kaum zu überbieten ist.

Neben dieser Irrationalität stellen auch ausgewiesene Rechtsexperten die argumentative Substanz des Urteils in Abrede. So kritisiert Prof. Dr. Felix Ekardt von der Universität Rostock: „In freiheitlichen Demokratien ist die Politik nur für Fragen der Gerechtigkeit zuständig. Was dagegen jeder unter einem guten Leben versteht, bleibt ihm selbst überlassen, weil es die Freiheit anderer nicht tangiert. Gemessen daran hat der EGMR mit seinem Urteil eine Überschreitung der Handlungsbefugnisse des liberalen Staates hingenommen.“

Angesichts der Tatsache, dass neben Politik und Medien nun selbst die europäische Justiz den Raum der Vernunft und des Gewissens verlassen hat, ruft Hizb-ut-Tahrir die Verbände der im deutschsprachigen Raum lebenden Muslime zu einem radikalen Kurswechsel auf. Ein prüfender Blick auf die vergangenen Jahre verdeutlicht die systemische Sackgasse in der wir uns derzeit befinden. Das von der Mehrheitsgesellschaft vorgegebene Handlungsmuster ist durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vollends ad absurdum geführt worden. Der immer stärker werdende Hass gegen den Islam hat nicht nur das parteipolitische Zentrum nach rechts gerückt, er hat sich ebenso der Urteilsfähigkeit der Justiz bemächtigt und die hochgepriesene „Unabhängigkeit der Gerichte“ in das Reich der Mythen verbannt. Die Dichotomie durch den parlamentarischen Weg einerseits und den juristischen andererseits, um so den eigenen Interessen Geltung zu verschaffen, hat sich als soziopolitischer Bumerang erwiesen, durch den unsere Widersacher an Schulen, Universitäten, Arbeitsplätzen und im öffentlichen Raum Rechtssicherheit für ihre antiislamische Agenda erlangt haben.

Hizb-ut-Tahrir ruft daher die muslimische Gemeinschaft dazu auf, zum Schutz der eigenen Identität und Integrität auf intellektueller und gesellschaftlicher Ebene einen außerparlamentarischen Widerstand zu organisieren! Die unterschiedlichen muslimischen Strömungen hierzulande müssen zusammenkommen, den gemeinsamen Nenner betonen und eine politische sowie kommunikative Strategie entwickeln, so dass der Mehrheitsgesellschaft ein starker Gesprächspartner mit einheitlicher Stimme entgegentritt und die bestehende Asymmetrie des gegenwärtigen Diskurses aufhebt. Nur durch die Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, landesweiten Kampagnen, Publikationen sowie durch medienwirksame Konferenzen und Demonstrationen können wir Muslime in dieser soziopolitischen Auseinandersetzung bestehen und unsere unveräußerlichen Werte verteidigen.

﴿وَلَا تَتَّبِعْ أَهْوَاءَهُمْ وَاحْذَرْهُمْ أَنْ يَفْتِنُوكَ عَنْ بَعْضِ مَا أَنْزَلَ اللَّهُ إِلَيْكَ﴾ 

Und folge nicht ihren Neigungen, und sei vor ihnen auf der Hut, auf dass sie dich nicht bedrängen und von einem Teil dessen abbringen, was Allah zu dir herabgesandt hat. [5:49]

26. Šauwāl 1438 n. H.

20.07.2017 n. Chr.

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