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بسم الله الرحمن الرحيم

Im Namen Allahs des Erbarmungsvollen des Barmherzigen

Beginnt der Stern Erdogans zu sinken? Und was kommt danach?

Geschrieben von Asad Mansur

Am 23. Juni 2019 wurde der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu nach der Neuauflage der Bürgermeisterwahl in Istanbul zum Sieger erklärt. Mit 54,21% der Stimmen konnte er seinen Kontrahenten aus der Erdogan-Partei AKP Binali Yilidirim ausstechen, der lediglich auf 44,99% kam. Erdogan und der von ihm ins  Rennen geschickte Kandidat waren daraufhin gezwungen, die Niederlage einzugestehen und dem Sieger zu gratulieren.

Erdogan missfiel das Ergebnis der Wahlen vor drei Monaten (31.03.2019) und und hat sie angefochten, nachdem der Abstand zwischen dem eigenen Kandidaten und dem der Republikanischen Volkspartei (CHP) 25.000 Stimmen betrug. Daher forderte er eine erneute Auszählung der abgegebenen Stimmen. Der Vorsprung lag dann nur noch bei 13.000 Stimmen, was ihn dazu verlockte, nach einer Wahlwiederholung zu fordern, bis ein Termin für eine erneute Abstimmung beschlossen wurde. Das Ergebnis war allerdings niederschmetternd, denn der Abstand zwischen den beiden Kandidaten hat sich auf 806.426 vergrößert.

Dieses Votum resultierte etwa nicht aus Liebe zum CHP-Kandidaten, sondern vielmehr aus Hass gegen die Selbstherrlichkeit Erdogans und ist ein Signal dafür, dass man begonnen hat, sich von ihm abzuwenden. Denn selbst in den Hochburgen der Erdogan-Unterstützer, in den Stadtteilen Istanbuls, die von jenen Muslimen bewohnt werden, die die CHP samt deren Gründer Mustafa Kemal verabscheuen, wie in Fatih, Eyüp und Üsküdar, dort wo sich auch Erdogans Wohnhaus befindet, konnte der Oppositionskandidat einen Sieg verzeichnen.

Erdogan gelang es stets, islamische Emotionen für einen Sieg bei Parlaments-, Kommunal- und Präsidialwahlen, zu nutzen, während er in der Realität nichts  vom Islam umsetzte. Mehr noch, er gab den Startschuss für die Freiheiten, sodass sich Sündhaftigkeit und Laster ausbreiten und sich die Verfechter von Ausschweifung, Homosexualität und Teufelsanbetung neben Drogenkonsum, Glücksspiel und riba frei entfalten konnten. Letzteres (riba) hat außerdem noch die Mehrheit der Menschen „infiziert“, was damit gerechtfertigt wurde, dadurch das wirtschaftliche Wachstum anzukurbeln. Darüber hinaus ist ein verdorbenes Klima entstanden, das die Menschen davon abgehalten hat, sich an den aḥkām šarʿiya, den islamischen Rechtssprüchen, zu orientieren. Besonders die Medien sorgen dafür, dass sich die Lasterhaftigkeit weiter verbreitet. Sämtliche Verstöße gegen den šarʿ, das islamische Recht, erscheinen als etwas Natürliches, Akzeptables. Dagegen sind die Träger der islamischen daʿwa, vor allem jene, die zum Kalifat aufrufen und das Unrecht anprangern zunehmenden Repressionen ausgesetzt. So hat niemand das Recht, Vorkommnisse, die dem Islam widersprechen (munkarāt) und die sich im Land ausgebreitet haben, anzuprangern, noch zu dem aufzurufen, was islamisch korrekt (ma'ruf) wäre!

Die Erdogan-Getreuen pflegten die Menschen stets damit hinzuhalten, dass Erdogan vorhabe, den Islam zu implementieren - allerdings schrittweise. Sie behaupteten, man befinde sich in einer Etappe, danach käme die Stufe der Implementierung des Islam. Vollzieht sich die Implementierung des Islam etwa durch einen tiefen Rückschritt, einen Rückfall, indem man den Startschuss zu den Freiheiten gibt und der Sünde, dem Laster und allem Verbotenem freien Lauf lässt, indem man also eine verdorbene, verderbende Atmosphäre schafft?! Glaubt irgendjemand, der einen funktionierenden Verstand besitzt, daran, dass eine solche Person den Islam einführen wird?! Und dieses beharrliche Festhalten am Säkularismus und an der Demokratie vonseiten Erdogan und das Propagieren dieser Ideen und das Irreleiten der Menschen, sie würden dem Islam nicht widersprechen; ist das etwa eine der Etappen bzw. die stufenweise Implementierung des Islam?! Nach welchen Kriterien wird beurteilt? Und wie werden die Dinge verstanden?

Würde der Weg andersherum verlaufen, so könnte man möglicherweise der Behauptung glauben, dass eine stufenweise Einführung des Islam vonstattengeht. Doch mit dem derzeitigen Status Quo ist die bloße Behauptung einer stufenweise Einführung völlig absurd! Abgesehen davon: Die Methode des tadarruǧ verstößt gegen die Pflicht, den Islam im Ganzen und unverzüglich nach der Machtübernahme durch einen islamischen Herrscher zu implementieren.

Nach dem Putschversuch gegen Erdogan am 15. Juli 2016 stellten sich die Menschen auf die Straße mit den Rufen „Allahu akbar“ und „La ilaha illa Allah“ den Putschisten in den Weg. Sie protestierten in den Moscheen, beteten und richteten ihre Bittgebete zu Allah (t). Nachdem Erdogan gerettet und der Putschversuch missglückt war, rief er hingegen dazu auf, an der Demokratie festzuhalten und einen Demonstrationszug für die Demokratie zu organisieren. Und als die CHP eine Woche später eine Demokratie-Kundgebung anführte, bat Erdogan seine Anhänger darum, daran teilzunehmen. Und auch seine Anhänger in Deutschland hatte er dazu aufgerufen, eine Kundgebung für die Demokratie zu organisieren - nicht für den Islam. All das tat er, um die Menschen fern von islamischen Emotionen zu halten und sie davon abzubringen, diese Gefühle für die Rückkehr des Islam zu nutzen, indem sich etwa eine islamische Atmosphäre bildet, die zur Implementierung des Islam hinführen könnte. Eine solche Gelegenheit bestand etwa, als Erdogan nach dem Putschversuch die Kontrolle über die Armee, über die Sicherheit und über die Geheimdienste erlangte und die Menschen sich stark mit ihm solidarisierten.

Doch es existieren noch weitere Faktoren, die zur Niederlage der Erdogan-Partei geführt haben. Dazu gehört, dass sich die Menschen des autoritären und selbstherrlichen Stils Erdogans bewusst wurden und dass er mit allen Mitteln versuchte, seinem Kandidaten in Istanbul zum Sieg zu verhelfen, bis er die Neuwahlen durchsetzte. So hatte er die Kurden umgarnt, als er einst Besuche und Telefonate für Öcalan zuließ, nachdem ihm dies lange verboten war. Er spekulierte damit auf die Stimmen der Kurden in der Annahme, dass der Sieg der CHP auf die Wählerstimmen der Kurden zurückzuführen gewesen sei. Zu den Faktoren gehörte auch die unablässige Verfolgung von Oppositionellen, zu denen auch die zählten, die von ihm des Putschversuchs beschuldigt wurden. Der türkische Innenminister Soylu verkündete am 10. März 2019, dass die Anzahl der festgesetzten Personen bei 511.000 liege, von denen 30.821 verhaftet wurden. Und noch immer gehen die Festnahmen und Säuberungen innerhalb des Militär- und Sicherheitsapparates und auch anderswo weiter, nicht zu vergessen, die Personen, die von ihren Arbeitsplätzen entfernt wurden, deren Zahl bei über 150.000 liegt. All das hat die Wut und den Groll auf Erdogan  gesteigert.

Ferner rumort es auch innerparteilich in der AKP, was auf seinen autoritären Stil, seinen Hochmut und seine Egozentrik zurückzuführen ist. Das ist auch der Grund, warum es zu dem Versuch Davutoglus kam, eine neue Partei zu gründen. Womöglich arbeiten die Amerikaner an der Vorbereitung einer Alternative, sollte Erdogan fallen.

Zu den wichtigsten Faktoren, auf die sich Erdogan stets stützen konnte, gehörte die Wirtschaft. Doch die strauchelt erheblich. So fiel der Wert der türkischen Lira, ohne dass Erdogan dies stoppen konnte. Und auch die wirtschaftliche Wachstumsrate fiel von 7,4% im Jahr 2017 auf 2% in diesem Jahr. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 14,7%, während die Inflationsrate 20% liegt. Der Zinssatz erreichte einen Wert von 24%.

Was die Außenpolitik betrifft, so ist er mit Russland, mit dem Iran und mit den Vereinigten Staaten verbündet, mit den Ländern also, die das brutale Assad-Regime stützen. Er hat die Syrer im Stich gelassen und sie dem Regime ausgehändigt. Und schließlich unterzeichnete er am 17. September 2018 zusammen mit Putin das Sotschi-Abkommen - mit dem Segen Amerikas. Damit sollten die bewaffneten Rebellengruppen in der Region Idlib eingekesselt und eine demilitarisierte Zone eingerichtet werden, die verhindern sollte, dass die Rebellen zu den Regionen vorrücken, die sich unter Kontrolle des Regimes befanden sowie zu dem russischen Stützpunkt Humaimim. Man wollte so die Rebellen ausbluten lassen, bis sie sich der von den Amerikanern geschmiedeten politischen Lösung unterwerfen.

Dass es zu einem Murren bei einigen Menschen in der Türkei über die Zunahme syrischer Flüchtlinge im Land kam und zu der Behauptung einiger, sie würden ihnen die Arbeit wegnehmen, so dass die syrischen Flüchtlinge als vermeintliche Ursache für die wirtschaftlichen Probleme ausgemacht wurden (was unfair und ungerecht den Syrern gegenüber ist), all das ist auf Erdogan selbst zurückzuführen. Er tat sich mit den Verschwörern zusammen, die gegen das syrische Volk intrigierten und damit einen Sturz des Regimes verhinderten, was das Problem der syrischen Flüchtlinge gelöst hätte. Denn wäre das Regime gefallen, so wären die Flüchtlinge aus der Türkei und aus anderen Ländern zu ihren Häusern und zu ihren Besitztümern zurückgekehrt. Doch die Verbündeten Erdogans, d.h. die USA, Russland, der Iran und deren Mitläufer Saudi-Arabien und andere, haben sich alle verschworen, um zu verhindern, dass das Regime stürzt. Sie täuschten die bewaffneten Rebellengruppen, trieben sie aus Regionen, die ihrer Kontrolle unterstanden und hinderten sie daran, in Damaskus einzurücken, um das Assad-Regime zu Fall zu bringen. Die Rebellenverbände waren dazu in der Lage gewesen.

Daher sind wir imstande, zu sagen, dass viele Menschen begonnen haben, Erdogan abzuschütteln, gegen ihn zu rebellieren und ihm einen Denkzettel verpasst haben. Von ihm stammt der Wahlspruch: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei. Und wer Istanbul verliert, verliert die Türkei.“ Dieser Slogan ist jedem auf der Straße bekannt. Daher weist diese Wahlschlappe auf seine kommende große Niederlage hin. Abgesehen davon existieren weitere Faktoren, besonders der, dass Erdogan sich weit vom Islam entfernt hat und er die Menschen von sich entfernt hat, indem er den Säkularismus, die Demokratie und die Freiheiten im Land konsolidiert hat. Und daher: Die „Islamisten“, die sich seit nunmehr 17 Jahren von ihm haben täuschen lassen, werden erwachen. Sie sind auf den tadarruǧ hereingefallen. Viele von ihnen sind zu der Einsicht gelangt, dass kein Fortschritt stattfindet, sondern vielmehr eine Rückschritt. Das bedeutet allerdings nicht, dass die CHP - eine Partei mit einer schwarzen Vergangenheit und seit dem Gründer Mustafa Kemal berüchtigt für Willkür und Unterdrückung - das Land führen wird. Es ist eine gescheiterte Partei, die die Probleme schon in der Vergangenheit nicht lösen konnte. Die Wahl eines Kandidaten dieser Partei war nur die Rache an Erdogan und geschah nicht aus Liebe zur CHP. Daher wird die Niederlage Erdogans jener Schlag sein, der diejenigen aus dem Schlaf holen wird, deren Bewusstsein getrübt war. Sie werden sich dessen bewusst werden, dass das, was Hizb-ut-Tahrir ihnen stets sagte und noch immer sagt, das Richtige ist. Es wird eine Gelegenheit sein für diese Partei – der Partei des Kalifats – ihre Wurzeln noch weiter zu festigen, sich weiter auszudehnen, bis ihre Arbeit Früchte trägt. Möglicherweise wird es in Ankara entstehen und nicht in Istanbul. Und dann wird das Kalifat zum Bait ul-Quds (Jerusalem) weitergetragen, zum Kern der Stätte des Islam, so wie der Gesandte (s) es prophezeite.

 Quelle: Zeitung al-Raya, Ausgabe 241, 03.07.2019

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